Juli 1, 2023

Bekenntnisse eines Hochhinausstapelnden

Da grinst er kackfrech, der letzte gedruckte Rewe-Prospekt. Wieder was futsch, weg, abgemeldet. Das häuft sich in letzter Zeit… und prägt mein Leben mehr als ich je gedacht hätte. Zeit für Bekenntnisse eines Hochhinausstaplers (nicht zu verwechseln mit Thomas Mann’s ähnlich titulierten Erfolgsroman!).

Eine zuweilen ironische Selbstreflexion, verfasst an einem verregneten Vormittag 

Also das ist er, der letzte gedruckte Rewe-Prospekt. Den hebe ich mir auf. Wird ja bald immer weniger gedrucktes Brauchpapier geben. So wie manche Tageszeitung. In Hamburg soll es bald um die “Mopo” – deren Nutzwert ich meist zum Fischeinwickeln eingestuft habe – geschehen sein. Oder die “Wiener Zeitung”. Oder so manche Fachzeitschrift, die allzu häufig nur verblödete Werbepostille eines vereinsamten Allein-”Chef”-Redakteurs war. 

Der letzte gedruckte Rewe-Prospekt

Alles kein großer Verlust, aber eben Ende einer Ära. Einer Ära, die mich prägte. Als der Quelle-Katalog in der heimischen Bibliothek wichtiger als der Brockhaus war. Als junger Reporter bei einer regionalen Tageszeitung hackte ich auf schweren Schreibmaschinen herum – und freute mich über endlose Papierrollen mit Rechercheinformationen aus dem Fax-Gerät. In dieser Zeit, den frühen 1990er-Jahre, war dann eine elektrische Schreibmaschine mit Korrekturfunktion (eine ganze Zeile einfach ausixen und neu tippen!) schon der neueste Scheiß. Oder dann meine eigene Stimme im Lokalradio zu hören – nach einem Aufsager in der Telefonzelle als aufstrebender Korrespondent von Sportturnieren; eindeutig erkennbar an den von Kleingeld – für den öffentlichen Fernsprecher – ausgebeulten Hosentaschen.

Da hatten Verleger und Medieninvestoren noch alle Macht. Geld für Druckmaschinen. Dass dies eines Tages marginalisiert sein würde und just mein berufliches Vorankommen disruptieren würde, fiel mir im Traum nicht ein. Wie auch? Erste Surfversuche verfingen sich noch am Einwählen ins skurrile In-ter-net vom Datex-J aus; notabene: Datex-J war so etwas wie Bildschirmtext (Btx) für Jedermann. Mit dem sehnlichst erwarteten “Windows 95” auf unfassbar langsamen 486er-PCs kam schon der große blaue, digitale Ozean in Sicht. Abendliche Recherche daheim – im Verlagsbüro gab’s es nur Apple Macintosh Plus in Bonbonfarben und mit Diskettenschlitz – ließen mich in der Nachrichten-Kakophonie, gefunden über “Paperball” – Google gab es noch nicht -, verlieren.

Wahrscheinlich haderte ich damals schon mit der tradierten, ewig langsam erscheinenden Medienwelt der Mailings per Schneckenpost, der wahnsinnig langen Vorlaufzeit für angeblich aktuelle Zeitschriften (Redaktionsschluss Wochen, ach was Monate bis zum Erscheinen!). Als dann, Jahre später, erschreckende Erkenntnisse sich hinzufügten – wie die als hochheilig gehandelte IVW, die Informationsgemeinschaft zur Feststellung der Verbreitung von Werbeträgern, sich allzu leicht bescheißen ließ und niemals gedruckte 20.000 Exemplare einer Monatsauflage einfach mit an die Anzeigenkunden verkauft wurden – war es klar, dass mir der Abschied leichtfallen würde. 

Ich hatte ja vieles, sehr vieles erreicht. War Chefredakteur mit gerade mal 27 Lenzen. Hatte längst Radio und TV gemacht. Administrierte die ersten Content-Management-Systeme, die es im deutschsprachigen Web gab. 

Klingt toll. War es auch. Hatte aber auch seine Abgründe, gefühlt so tief wie der Marianengraben. Mit 30 fast Internetmillionär, mit 31 pleite. Ein erster Burnout. Nägel gekaut, abends kein Bier ausgelassen. Ok, diese Bekenntnisse sollen Part eines weiteren Kapitels sein, wenn ihr so verrückt wärt, dieses Buch jemals kaufen zu wollen … #grins

Irgendwann dann muss ich diese Entscheidung bereits getroffen haben. So ganz tief in mir drin, unbewusst, unscheinbar. Sicherlich hatte da die Dosis Lebensweisheit meiner Frau Mutter ihren Anteil: 

“​​Es muß das Herz bei jedem Lebensrufe
Bereit zum Abschied sein und Neubeginne,
Um sich in Tapferkeit und ohne Trauern
In andre, neue Bindungen zu geben.
Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.”
Aus: “Stufen” von Hermann Hesse

Ich wollte nämlich nie alt, hässlich und fett werden. Gegen die beiden ersten Punkte kann man nix machen. Gegen den dritten Punkt aber schon! Also musste ich mich auf Kurs bringen, gewissermaßen die Quadratur des Kreises überlisten und mir tagtäglich selbst in den Allerwertesten treten. Als mein neues Spielfeld hatte ich Sprachen auserkoren. Natürliche, zu parlierenden Sprachen und künstliche, zu hackende Programmiersprachen. Der Wahnsinn nahm seinen Lauf …

Just bei diesen Zeilen wird mir gewahr, wie weit ich in gerade einmal drei Jahren gekommen bin. Business Englisch, Französischvokabeln an jedem Morgen zu pauken, der Spanisch-Grundkurs abgeschlossen, des kyrillischen Alphabets mächtig geworden und so manches Pinyin-Schriftzeichen im Mandarin entziffernd. Auf der einen Seite. Auf der anderen Seite meine HTML-Kenntnisse aufgemöbelt (das Rückgrat des Web Development ist nunmehr 30 Jahre alt), CSS reingezogen, JavaScript samt React und Svelte erlernt, Python und SQL einstudiert. Alles Sprachen eben. Das Tor zur Welt. Zu meiner Welt als sog. Digital Evangelist – eine etwas eigenwillige Titulierung, die mir von IT-Nerds aus Ostasien verliehen worden war – und Web und Software Developer. 

Tja, Augen auf der Berufswahl! Was Professor Binsen uns weismachen will, ergänze ich mit: Der alte Beruf ist tot. Es lebe der neue! Meine Hoffnung: In wenigen Monaten wird sich niemand daran erinnern, dass ich als old white man ein blutiger, quereinsteigender Rookie war… Klingt wie eine abgeklärte, krude Bewerbung. Ist es auch. Ich bewerbe mich hiermit um eine respektable neue Stellung im digitalisiert-automatisierten Zeitalter. Mit respektablen technologischen Fähigkeiten. Mit massig Erfahrung. Mit Instinkt, wie Menschen an Maschinen ticken. Brave new world of this german guy. 

To be continued

 
P.S. Fortsetzung erwünscht? Als Fortsetzungsgeschichte oder gleich als schonungslos ehrliche Memoiren? Like? Oder vollumfänglich bescheuerte Idee??

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

wpChatIcon